„Die sollen doch zurück in ihr Land… Die sollen dankbarer sein…“
- ITGenossin
- 12. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Aug.

Solche Sätze liest man oft in Kommentarspalten, Foren oder Social Media. Sie klingen direkt – aber sie sind nichts weiter als Floskeln, die echten Dialog verhindern. In Wirklichkeit helfen sie niemandem, sondern tragen zur Spaltung bei.
Wir leben in einer globalisierten und digital vernetzten Welt. Migration, kulturelle Vielfalt und internationale Zusammenarbeit sind keine Ausnahme mehr – sie sind Realität. Die Frage ist nicht ob, sondern wie wir gemeinsam leben. Und da lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Was bedeutet Integration wirklich? Was ist Rassismus in Wahrheit?
Viele wollen sich integrieren – aber nicht alle starten bei null
Die oft gestellte Frage, warum sich „gewisse Leute nicht einfach integrieren“, blendet viel aus.
Viele Menschen wollen Teil der Gesellschaft sein. Sie wollen arbeiten, dazugehören, sich beteiligen. Aber: Nicht jeder kommt mit den gleichen Voraussetzungen. Manche tragen schwere Lasten – Krieg, Flucht, familiäre Instabilität, Armut oder schlicht andere kulturelle Prägung.
Einige kennen keine stabilen Strukturen, keine demokratischen Entscheidungsprozesse, keine friedliche Streitkultur. Sie mussten überleben – nicht mitreden. Andere sind in autoritären oder patriarchalen Gesellschaften aufgewachsen, in denen Eigenverantwortung nicht gefördert wurde. Und viele hatten nie Zugang zu Bildung oder digitalen Werkzeugen.
Das heißt nicht, dass sie nicht wollen – sondern dass sie mehr Zeit, Orientierung und Unterstützung brauchen. So wie es auch in unserer eigenen Gesellschaft Menschen gibt, die länger brauchen, Fehler machen oder nicht sofort „funktionieren“.
Integration ist kein Selbstläufer – vor allem digital nicht
In der IT-Welt ist das glasklar: Systeme müssen zugänglich sein. Es reicht nicht, dass sie auf dem Papier funktionieren – sie müssen intuitiv, inklusiv und robust sein.
Warum erwarten wir dann bei der gesellschaftlichen Integration etwas anderes?
Vieles, was heute unter „Integration“ läuft, ist bürokratisch, schwer verständlich und an Menschen mit akademischem Hintergrund oder hoher Eigeninitiative ausgerichtet. Wer sich nicht sofort auskennt, wird schnell als „nicht willig“ abgestempelt – statt zu fragen: Ist unser System überhaupt verständlich? Funktioniert es für alle?
Rassismus – ein Spiegel der eigenen Unsicherheit
Rassismus ist kein statisches Weltbild – er ist ein psychologischer Reflex. Er entsteht oft aus Unsicherheit, Angst, Neid oder Überforderung.
Hinter rassistischen Aussagen stecken häufig:
Angst vor dem Unbekannten
Bequemlichkeit, das eigene Denken nicht hinterfragen zu müssen
Neid auf soziale oder wirtschaftliche Vorteile
Wunsch nach Überlegenheit oder Kontrolle
Mangel an echten Begegnungen oder Informationen
Und im digitalen Raum ist Rassismus besonders präsent: anonym, emotional, schnell und oft ohne Korrektiv. Kommentare voller Vorurteile verbreiten sich viel schneller als differenzierte Gedanken.
Doch wer andere abwertet, zeigt nicht Stärke – sondern eigene Unsicherheit.
Der Rütlischwur – ein Versprechen, das heute zählt
Die Schweiz ist stolz auf ihre Geschichte. Der berühmte Schwur auf dem Rütli – „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“ – steht symbolisch für Einheit, Solidarität und gemeinsame Verantwortung.
Heute bedeutet das: Wir bauen eine Gesellschaft, in der Vielfalt Platz hat. Nicht Gleichmacherei, sondern Zusammenhalt. Nicht Misstrauen, sondern Mitverantwortung.
Wenn wir diesen Schwur ernst nehmen wollen, dann gilt er auch digital, in der Bildung, in der Arbeitswelt – überall dort, wo Gesellschaft gelebt wird.
Und jetzt mal ehrlich: Wie gut ist unser System wirklich?
Wir erwarten, dass sich Menschen integrieren.
Dass sie unsere Sprache lernen, unsere Regeln verstehen, sich anpassen. Aber mal ganz ehrlich:
Wie kann ich verlangen, dass jemand Schweizerdeutsch lernt – wenn es kein offizielles Regelwerk, keine einheitliche Grammatik, kein standardisiertes Lernmaterial gibt?
Nicht mal in den Schulen, nicht im Fernsehen, nicht auf offiziellen Webseiten wird Schweizerdeutsch systematisch vermittelt. Come on.
Wie soll Integration gelingen, wenn schon die Basics voller Widersprüche sind?
Wenn Regeln, Sprache und Erwartungen diffus sind – und sich je nach Region, Kanton oder Behörde ändern?
Wir können nicht ernsthaft verlangen, dass sich Menschen perfekt einfügen, wenn das System selbst unklar, schwer zugänglich und teils widersprüchlich ist. Selbst für die Einheimischen.
Fazit: Integration ist keine Prüfung – sondern ein gemeinsamer Weg
Wer fordert, dass sich andere besser integrieren sollen, sollte sich zuerst fragen, ob das System dafür überhaupt geeignet ist.
Denn wenn unser Integrationssystem wirklich gut wäre – hätten wir diese Probleme nicht.
Rassismus ist oft ein Zeichen innerer Unsicherheit – Integration dagegen ist ein Zeichen von Stärke. Sie braucht Zeit, Klarheit und gegenseitige Offenheit. Und sie beginnt nicht bei „den anderen“ – sondern bei uns selbst.
Gerade in einer digitalen Gesellschaft, in der wir ständig vernetzt, sichtbar und global unterwegs sind, können wir es uns nicht leisten, Menschen auszuschließen oder als Problem zu betrachten.
Die Zukunft baut auf Verstehen, nicht auf Spaltung. Auf Zugang, nicht auf Abschottung.
Und vielleicht ist es Zeit, den Rütlischwur neu zu lesen – nicht nur als historische Legende, sondern als aktives Versprechen:
Wir wollen sein ein einig Volk – nicht trotz, sondern wegen unserer Vielfalt.
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